Leseprobe

Neue Herausforderungen in Kenia

Mit Freude kehre ich Mitte Juli 2009 um viele Erfahrungen reicher und um zwölf Kilo leichter ins Tessin zurück. Nachdem ich mich acht Wochen hauptsächlich in kargen Landschaften bewegt habe, lockt mich der Anblick der satten grünen Wiesen, die während der Zugfahrt von Zürich nach Lugano vorbeiziehen, gleich wieder in die Berge. Die Reisetasche ist noch nicht ausgeräumt, da packe ich schon den Rucksack und steige am folgenden Tag auf über 2.200 Meter und wandere teilweise durch die letzten Schneereste. Der Kontrast zu dem, was hinter mir liegt, ist unglaublich ergreifend. Die grünen Wiesen mit all ihren Wildblumen, die blühenden Alpenrosen, die sich zwischen den grauweißen Felsbrocken rot gegen den blauen Himmel recken, empfinde ich so intensiv wie noch nie zuvor auf meinen Touren. Der Duft, den die Blumen verströmen, ist so süßlich, dass mir beim Aufstieg fast schwindlig wird. Gestern noch in Namibia und heute schon in unseren Alpen – wie vielseitig die Welt doch ist! In den kommenden Monaten unternehme ich einige Bergtouren und lasse dabei meinen Gedanken, wenn möglich, freien Lauf. Mal schweife ich zurück in die Wüste Namibias mit den einmaligen Himba, mal gelten meine Gedanken meiner Familie in Kenia. Napirai hat inzwischen zwar geäußert, dass sie sie auch einmal besuchen möchte, wirklich bereit jedoch scheint sie bisher nicht zu sein. Mein letzter Besuch liegt sechs Jahre zurück und ich würde gerne wieder hinfahren, aber ohne meine Tochter ist es fast nicht möglich. Ich wäre in Erklärungsnot gegenüber ihrem Vater und ihrer Großmutter, die sehnlichst auf diesen Moment warten.

Dennoch spüre ich eine innere Unruhe und eine durch die Namibiareise neu entfachte Neugier auf Kenia. Allzu gerne würde ich dem Geheimnis auf die Spur kommen, warum ich jedes Mal, wenn ich in Afrika bin, diese pulsierende Energie wahrnehme, ganz im Gegensatz zu dem, was man hier in Europa über diesen Kontinent erfährt. Jeder, der einmal in Kenia oder einem anderen afrikanischen Land war, ist fasziniert, wie sich die Bevölkerung organisiert, um einigermaßen zu überleben.

Wenn es mir gelänge, dort möglichst viele Menschen zu treffen und ihre Lebensgeschichten zu dokumentieren, wäre das vielleicht auch für meine Leserinnen und Leser interessant. Schließlich haben mir unzählige von ihnen in Briefen und E-Mails mitgeteilt, wie sehr das Lesen meiner Geschichte auch ihr Leben beeinflusst und ihnen Kraft und neuen Lebensmut beschert hat. Wie viel mehr Stärke und Mut würden sie gewinnen, wenn sie die Geschichten von Menschen lesen könnten, die sich unter ungleich schwierigeren Bedingungen durchschlagen müssen und dennoch ihre Lebensfreude nicht verlieren.

Die Frage ist nur: Wie komme ich an solche Geschichten heran?
Da trifft es sich gut, dass Klaus, der Kameramann, der vor sechs Jahren mit mir in Barsaloi war, mit seiner kenianischen Frau und ihrer gemeinsamen Tochter für mehrere Wochen nach Nairobi fliegt. Als ich ihm von meiner Idee erzähle, schlägt er mir vor, mitzukommen. Er bietet mir sein Beziehungsnetz an, das er seit Jahren in Nairobi aufgebaut hat. Er könnte mich mit einigen Leuten bekannt machen, die Großartiges geleistet haben und das immer noch tun. Sofort bin ich Feuer und Flamme und nehme sein Angebot dankbar an.

Bereits Ende Februar 2010 fliege ich erneut nach Afrika. Diesmal nach Nairobi, der Hauptstadt von Kenia. Es ist nicht meine absolute Lieblingsstadt, aber mein Gefühl sagt mir, dass es so richtig ist. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass ich mit so faszinierenden afrikanischen Lebensgeschichten nach Hause kommen werde, dass sogar Napirai ihre Scheu ablegen und Mut und Kraft darin finden wird, um einige Monate später eine Reise nach Barsaloi anzutreten ...

© 2011 A1 Verlag, München